SECHS MINUTEN

KURZGESCHICHTE – SECHS MINUTEN

Wenn jemand stirbt, ist es gar nicht der Tod selbst, der so schmerzt. Stattdessen ist es die Zeit danach, die quälend langsam verstreicht während man wartet.

Dein Körper beginnt bereits kalt in meinen Armen zu werden. Ich warte, warte und warte und während dessen wirst du immer lebloser.

Das einzige, woran ich in diesem Moment denke, ist, dass ich vor wenigen Stunden noch mit dir gesprochen habe. Vor wenigen Stunden war noch alles in Ordnung. Dein Herz hat geschlagen. Deine warmherzige Stimme hat zu mir gesprochen, deine Augen waren direkt auf mich gerichtet, als ich mich verabschiedet habe. An all diese Dinge denke ich und kann einfach nicht begreifen, dass das alles jetzt fort sein soll. Für immer.

Die Frau am Telefon sagt, der Krankenwagen ist in sechs Minuten vor Ort. Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass sechs Minuten so lang sein könnten, so endlos lang, als würde die Welt stehen bleiben und gleichzeitig in einem Winpernschlag in Flammen aufgehen. Alles was ich kenne alles, was ich liebe ist weg.

Auf der einen Seite hab ich das Gefühl, das zu verstehen und zu realisieren und auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es ist so surreal, wie deine Augen an die Decke ins Leere starren. Du bewegst dich nicht, atmest nicht. Du lächelst nicht. Einfach gar nichts. Ich weiß genau, dass die Zeit gerade vergeht, denn ich höre das Tick Tack unserer Uhr an der Wand.

Gott, das Ticken ist so verdammt laut in meinen Ohren. Viel lauter als gewöhnlich. Du hast sie erst vor kurzem repariert, sodass sie nicht mehr so laut ist aber jetzt, in diesem Augenblick ist sie so laut, dass ich das Gefühl habe, sie könnte mich jeden Moment verschlingen. Dabei ist es gar nicht das Geräusch oder die Lautstärke, die mich in den Wahnsinn treiben. Es ist die damit verbundene Gewissheit, dass die Zeit vergeht und ich nur noch 6 Minuten Zeit mit dir habe. Mit einem Menschen, der mich bereits verlassen hat.

In sechs Minuten wirst du für immer fort sein und ich werde dich nicht mehr anfassen können. So wie du mich nicht mehr berühren kannst. Der Gedanke ist so grauenvoll, dass ich ihn nicht zulassen kann. Ich bin still, ertrage den Schmerz, der mich betäubt und kann nicht weinen. Dabei wünschte ich, das ich es könnte. Ich wünschte ich könnte diese Trauer, die den ganzen Raum ausfüllt, zulassen aber ich kann nicht. Es ist, als wären meine Gefühle nicht mit meinem Körper verbunden. Wie bei einer Marionette deren Fäden zertrennt wurden. Ich sitze einfach nur da, dich fest in den Armen haltend.

Wer hätte gedacht, dass sechs Minuten so lang und gleichzeitig so kurz sein könnten? Ich schau auf die Uhr und weiß, dass ich bald allein sein werde. Nicht nur allein mit den Kindern, die schon bald von der Schule nach Hause kommen, sondern auch allein im Leben, allein mit meinen Sorgen und meinen Ängsten und allein und mit meiner Freude.

Tick. Tack. Es sind noch 5 Minuten bis der Krankenwagen kommt.

5 multipliziert mit 60 Sekunden. Du könntest mir jetzt genau sagen, wie viele Sekunden es sind. Ich weiß es nicht. Du würdest mir wahrscheinlich sogar nur um es mir zu beweisen im Kopf ausrechnen wie viele Millisekunden es sind. Du bist ein bisschen pedantisch und magst es mit Zahlen zu jonglieren. Aber du bist auch praktisch veranlagt und bist der Ansicht das es keine Probleme gibt, für die du keine Lösung finden kann. Du hast dich nie auf andere verlassen oder gar auf die Technik und das, obwohl du eigentlich den ganzen Tag nur mit dem Computer arbeitet. Jetzt bist du tot.

Dieses Problem hat dich getötet, bevor du die Gelegenheit hattest zu reagieren. Du bist einfach gestorben und auch ich konnte nichts für dich tun. Rein gar nichts. All die Kurse während meines Medizinstudiums in Soul waren sinnlos. Du warst bereits tot als ich zur Tür reinkam. Kein Wissen hätte dich retten können. Wir sind noch so jung. Zu jung, um zu sterben, aber niemand sagt einem, so etwas. Wir alle glauben, wir leben bis wir alt und grau werden.

Tick. Tack. Noch 4 Minuten.

Ich schaue auf die Uhr, spüre Wut in mir. Warum kann nicht einmal die Zeit, die voranschreitet einmal rückwärts laufen. Nur für ein Moment, damit ich dir sagen kann, dass es okay ist auch wenn es nicht okay ist. Ich könnte dich belügen. Dann wüsste ich das du in Frieden ruhen würdest. Dabei kommt mir so gleich der Gedanke wie absurd es klingt. Wie kann jemand in Frieden ruhen, wenn er so früh gehen muss. Wenn man gar nicht fertig mit dem Leben ist, wenn man mitten aus dem gerissen ist, wovon man denkt, dass man gerade erst in der Halbzeit steht.

Tick. Tack. Nach 3 Minuten.

In meinem Kopf spielt sich bereits ab, wie sie an der Tür klingeln und ich dich ablegen muss, um die Tür zu öffnen. Ich will das nicht. Ich will dich nicht loslassen müssen. Bereits jetzt sehe ich vor mir, dass sie diese Trage, diese graue, minimalistische Rettungsbahre, die auch im Fernsehen immer zu sehen ist, rein tragen und sie dich auf sie ablegen. Der Gedanke ist so grauenhaft, dass ich deinen ausgestreckten Arm an mich nehme. Deinen Handrücken küsse und sie behutsam auf deine Brust lege. Du sollst nicht aussehen wie ein liebloser Mensch du sollst den Anschein erwecken, dass du friedlich schläfst, damit wenigstens ich mir vor machen kann, dass du vielleicht wieder aufwachst. Was würde ich dafür tun wenn es nur das wäre, aber so ist es nicht? Du bist tot.

Tick. Tack. Noch 2 Minuten.

Ich kann mein Blick nicht von dir abwenden. Ich kann nicht, denn es sind die letzten Blicke, auch wenn du sie nicht erwiderst, nie wieder erwidern wirst. Aber ich muss an deine warmen Augen denken. Du hast immer gesagt, sie wären langweilig und normal aber das sind sie ganz und gar nicht. Sie sind wachsam. Nein sie waren wachsam, denke ich.
Sie hatten den gleichen Braunton wie meine heiße Lieblingsschokolade aus dem Laden auf der Ecke und das Netz der Regenbogenhaut war so außergewöhnlich. Die Struktur war einfach wunderschön. Doch jetzt sind sie erbleicht. Ich wünschte, ich könnte noch einmal in deine Augen sehen und diese Zuversicht darin sehen.

Tick. Tack. Noch 1 Minute.

60 Sekunden. Ich muss nicht aus dem Fenster sehen, um das Blaulicht zu bemerken, dass von den Fenstern bis zu uns hinein aufleuchtet. Es bedeckt deine Haut und lässt sie in diesem blau roten Schimmer leuchten. Ich hasse dieses leuchten, ich hasse diesen Augenblick. Er soll enden. Ich will aufwachen. Das ist doch bestimmt nur ein Verdammter Albtraum, aus dem ich, wenn ich nur fest genug daran glaube, auch erwachen kann. Aber das kann ich nicht. Das weiß ich in dem Moment, als die Klingel tatsächlich läutet und ich tatsächlich stillschweigend aufstehe, die Tür unten entriegle und Männer in Sanitäter Montur die Wohnung betreten. Sie wissen, dass du tot bist.

Vielleicht haben sie sich deswegen so viel Zeit gelassen. Immerhin ist das Krankenhaus eigentlich nur 2 Minuten entfernt und sie haben mir gesagt, sie bräuchten sechs. Die zwei Männer gehen an mir vorbei und haben eine Trage, die schon beim bloßen Anblick ungenügend aussieht. Ich verspüre aus irgendeinem verrückten Grund das Bedürfnis, dich zu zu decken. Vielleicht weil dir kalt sein könnte dabei kannst du gar nichts mehr spüren. Sie heben dich hoch und einer der Männer sagt ich sollte mich verabschieden. Sie lassen uns schweigend diesen allerletzten Moment.

Ich ergreife die Hand auf deiner Brust, drücke sie einmal feste und sage auf Wiedersehen, auch wenn ich nicht daran glaube, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Vielleicht irre ich mich ja das ist zumindest was ich hoffe. An Gott zu glauben, ist mir immer schwer gefallen aber vielleicht, vielleicht gelingt es mir doch irgendwann zu glauben und vielleicht wird mir das helfen was diese letzten sechs Minuten in mir zerstört haben, wieder aufzubauen. Ich liebe dich. Ich weiß ich kann nicht von einem Tag auf den anderen aufhören dich zu lieben. Aber um nicht zu zerbrechen muss ich es versuchen. Vielleicht werde ich dich lernen zu hassen, dafür das du mich allein lässt. Mit allem was wir uns aufgebaut haben und das ich ohne dich nicht will. Die beiden Männer tragen dich raus und an ihrer Stelle kommt eine Frau in die Wohnung.

Eine Seelsorgerin. Ihr mitfühlender Blick ist wie Gift für mich, das meine Muskeln erzittern lässt. Ich will sie nicht hier haben auch wenn ich sie vielleicht brauchen könnte. Sie soll gehen. Also schüttle ich still den Kopf. Ganz so als würde sie meine stumme Bitte verstehen, verlässt auch sie unsere Wohnung und schließt hinter sich die Tür. Langsam schleppe ich mich auf den Stuhl, direkt am Fenster, ziehe die Beine an meine Brust und beobachte wie die Männer ein Stockwerk unter mir dich in ihren Wagen transportieren.

Jetzt kommen die Tränen. Erst ist es nur eine die langsam meine Wange hinbegleitet. Dann sind es so viele das sie in Strömen über meine Wangen laufen. Du bist tot. Stunden lang kann ich nichts anderes tun als dazusitzen und an die Stelle zu starren wo ich den Wagen aus der Augen verloren habe. Die Leere die du hinterlassen hast zerreißt mich von innen. Doch ich muss mich zusammenreißen, denke ich als mein Blick auf die Uhr fällt.

Tick. Tack. Ich muss jetzt stark sein.

Unsere Töchter kommen bald nach Hause und ich muss für sie zu dem Fels in der Brandung werden, der du für mich warst.
Ich weiß nicht wie ich das fertig bringen soll, aber das spielt auch keine Rolle. Denn ich muss. Und das ist alles was zählt. Unsere Kinder. Das würdest du von mir erwarten. Also verschließe ich mein Ich mit all seiner Trauer, Angst und Verzweiflung und hole die Mutter in mir hervor die alles und jeden in Stücke reißen würde der ihren Babys etwas anzutun versucht. Ich mache sie zu meinem Ich und verschließe die Frau die dich so sehr geliebt hat, das sie mit dir gestorben ist …

Die in dieser Geschichte vorkommenden Ereignisse sind inspiriert von Laura und dem tragischen Augenblick als sie ihren Lebensgefährten mit gerade mal 29 Jahren verlor aufgrund eines Gerinnsels im Gehirn.

Du hast Ähnliches erlebt oder kennst Betroffenen? Dann findest Du bei Malteser Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung. Du bist nicht allein!

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