UNSICHTBAR

KURZGESCHICHTE ÜBER BEHINDERUNG – UNSICHTBAR

Früher habe ich nie daran gedacht wie es wäre, wenn ich im Rollstuhl sitzen würde oder mit schweren Ticks zu kämpfen hätte. Ich war gesund. Ich war keine von ihnen. Wie alle anderen habe ich den Blickkontakt vermieden und meine Hilfe angeboten, wenn es mir nötig erschien. Ich habe nie den Menschen im Rollstuhl wahrgenommen, sondern stets seine Behinderung als allererstes gesehen. 

Heute wünschte ich mir, ich hätte es besser gewusst. Ich wünschte ich könnte die Menschen dort unten auf den Straßen anbrüllen, um innen zu sagen, dass sie ätzend sind.  Dass sie die Menschen um sich herum wahrnehmen sollen, die nicht wie sie sind. Menschen wie mich.

Drei Jahre sind vergangenen, seit ich diesen schrecklichen Unfall hatte. Diesen Tag werd ich nie aus meinem Gedächtnis streichen können, denn er hat sich auf meinem Körper verewigt. Vollkommen gleich wie sehr ich ihn zu vergessen versuche, sobald ich in den Spiegel sehe, schlagen mir all die Qualen und grauenvollen Erinnerungen entgegen und versetzten mich in Panik.

In diesen Momenten kann ich kaum atmen und meine Sicht verschwimmt, als würden die Rauchschwaden des Autos noch immer gen Himmel steigen. Sofort steigt mir der Geruch von verbrannter Haut in die Nase. Dieser beißende Gestank des Gummis der Reifen und das Benzin überlagern sich zu einem ekelerregenden Gemisch. Ich weiß noch das unser Auto liegen geblieben war. Ich erinnere mich sogar noch daran, was meine kleine Schwester an diesem Tag getragen hat, weil das mit Sonnenblumen bestickte Kleid ihre dunklen Augen zum Strahlen gebracht hat.

Das einzige tröstliche an diesem Tag ist, das sie ihn unbeschadet überstanden hat. Sie saß im Auto als es passierte. Angeschnallt und sicher. Mein Vater hatte mich gebeten das Warndreieck aus dem Kofferraum zu holen, während er den Autofahrern zu verstehen gab, dass sie die Spur wechseln sollten. Immer wieder stieß er Flüche aus, weil wir ausgerechnet auf der linken Spur einer voll befahrenen Autobahn liegen blieben mussten. Er war nervös und ich glaube, er hatte das was passieren würde gefürchtet. Ich hatte das Warndreieck gefunden als ich das Quietschen von Reifen hörte. In meinem Kopf hatte ein Gedanken in mir aufgeschrien. Es ist zu nah!

Als ich das Bewusstsein zurückerlangt hatte, wusste ich instinktiv das etwas Schreckliches passiert war. Ich zitterte und meine Arme wollten sich nicht bewegen. Ich lag mit dem Gesicht auf dem kratzigen Stoff des Kofferraums. Mit aller Kraft, die ich sammeln konnte, wollte ich mich hochdrücke, doch es war als wäre ich eine Puppe, der man die Fäden abwärts des Halses durchtrennt hatte. Da war nichts. Kein Schmerz, kein ziehen eines Muskels. Ich spürte gar nichts. Vor Anstrengung stöhnte ich auf, doch außer ein Gurgeln brachte ich nichts heraus. Dann drang erst das Weinen meiner kleinen Schwester an meine Ohren. Gott ich wollte ihr sagen, dass ich hier war und alles in Ordnung war, aber ich konnte nicht. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Was zum Teufel war hier los?

Dann hörte ich die hysterische Stimme meiner Mutter. Sie weinte und schrie jemanden an. Ich wollte ihr sagen, dass sie zu Mia gehen sollte, um sie zu brüchigen. Sie weinte noch immer und in meinem Herz krampfe sich alles zusammen, bei dem Gedanken das ihr vielleicht etwas passiert sein könnte. Verbissen versuchte ich erneut mich aufzurichten aber außer einem erbärmlichen Zittern meiner Schulter brachte ich nichts zustande. Dann endlich tauchte das Gesicht meines Vaters vor mir auf. Er streckte den Kopf durch eine kleine Öffnung die verbeult war. „Amanda, sie lebt!“, sagte er. Doch die Art wie er es sagte, vermittelte mir das Gefühl als wäre er darüber nicht erleichtert.

„Schatz, halt durch. Hilfe ist unterwegs“, sagte er nun zu mir. Tränen rannen ihm übers Gesicht und bahnten sich einen Weg durch den Ruß auf seiner Haut.
„Kannst du mich hören?“ Ich wollte nicken aber es wollte mir nicht gelingen also blinzelte ich zweimal schnell hinter einander. Außer einem röcheln verließ nichts meine Kehle.
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit und zugleich wie wenige Sekunden als ich das rotblaue Licht sah, dass sich in dem Lack unseres Autos widerspiegelte.

„Treten sie beiseite!“, hörte ich jemanden zu meinem Vater sagen und ein neues Gesicht kam in mein Blickfeld. Licht wurde mir ins Gesicht gehalten und jemand griff auf der anderen Seite nach meinem Arm. Doch ich bekam alles nur noch am Rande mit. Ich hatte das Gefühl als würde mir mein Verstand langsam entgleiten. Immer weiter bis ich schließlich nicht einmal mehr die Augenlider öffnen konnte. 

Als ich das nächste Mal aufwachte, lag ich in einem Krankenhausbett und mir wurde zum ersten Mal klar, das mir etwas Schlimmes passiert war. Überall waren Maschinen, die seltsame Geräusche von sich gaben. Ich war allein aber ich konnte im Flur meine Mutter stehen sehen, die Mia an der Hand hielt. Die Erleichterung, die mich bei ihrem Anblick ergriff, war unbeschreiblich. Ich wollte sie zu mir rufen, aber der Schlauch in meinem Hals machte es mir unmöglich. Doch aus irgendeinem Grund sah sie in diesem Moment in meine Richtung und sie begann heftig an dem Ärmel meiner Mutter zu zerren.

Als sie endlich zu ihr runtersah, zeigte Mia auf mich und meine Mutter rief nach einem Pfleger und meinem Vater. Alle standen um mich herum als man mich von dem Schlauch in meinem Hals befreite. Ich konnte allein atmen doch das war auch schon alles. Ich konnte nicht lächeln, nicht sprechen, nicht nach Mias Hand greifen die mich mit traurigen Augen ansah.

Das war der Moment wo mit wirklich bewusst wurde, dass sich mein Leben von nun an völlig verändern würde. Ich hatte einen furchtbaren Unfall überlebt. Aber das Leben, was ich von jetzt an führen würde, war ein einziges Gefängnis in meinem eigenen Körper. Nach Monaten der Genesung, wie sie es formulierten durfte ich nach Hause. Aber ich war an einen Rollstuhl gebunden und meine einzige Art mit andern zu kommunizieren bestand darin ein mal zu blinzeln für ja und zweimal zu blinzeln für nein.

Drei Jahre sind seither vergangen. Drei Jahre in denen wir meinetwegen umziehen mussten. Das wunderschöne Haus in der Provinz war einem Hochhauskomplex gewichen, wo wir eine Wohnung bezogen hatten, die Barrierefrei gebaut war. Mein einziger Kontakt zur Außenwelt, ist meine Physiotherapeutin die alle drei Tage vorbeikommt, um mit mir Training zu absolvieren, damit ich nicht zu einem Skelett ohne Muskeln mutiere. Sie ist die einzige neben meiner Schwester Mia, die mit mir spricht, als wäre ich noch immer die alte. Als könnte ich auf alles, was sie sagen, eine kluge Erwiderung geben.

Jeden Morgen kommt Mia in mein Zimmer krabbelt unter meine Decke, wenn ich noch im Bett liege und erzählt mir was sie geträumt hat. Am Nachmittag begrüßt sich mich nach der Schule stets mit einem Kuss auf die Wange und erzählt mir von ihrem Tag. Sie ist die einzige, die sich die Zeit nimmt mich an ihrem Leben noch teilhaben zu lassen. Sie sieht nicht nur die Behinderung. Mia sieht nach wie vor mich.

Mein Vater ist viel Arbeiten seit dem Unfall. Auch wenn sie es mir nichts gesagt haben, weiß ich das es wegen der Wohnung ist und den ganzen Arztrechnungen die, die Krankenkasse nicht übernehmen will. Dazu kommt, dass meine Mutter seit jenem Tag nicht mehr arbeiten kann. Meine Pflege verlangt alles von ihr ab. Und obwohl ich die meiste Zeit mit ihr verbringe, redet sie kaum noch mit mir. Manchmal versucht sie mich aufzumuntern aber ich glaube das sie die Stille einfach nicht erträgt. Genauso wenig wie sie meinen Zustand nicht ertragen kann. 

Das ist es was mich am meisten verletzt. Für sie werde ich nach und nach unsichtbar. Dabei bin ich genau hier. In diesem Körper, der mir nicht mehr gehorcht und es auch nie wieder tun wird. Ich wünschte so sehr ich könnte ihr sagen, das ich mir nur eine Sache wünsche. Dass sie mich so ansieht wie früher, dass mich die Leute auf den Straßen da unten so ansehen wie früher. Dass sie mich ansehen als wäre ich ganz normal und nicht unsichtbar.

Ende

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