DIE POSTKARTEN

KURZGESCHICHTE – DIE POSTKARTEN

10 min Lesedauer

Cover zur Kurzgeschichte "Die Postkarten"

Elena saß mit verschränkten Armen auf dem Rücksitz des Autos, die Kopfhörer tief in die Ohren gedrückt, während sie aus dem Fenster starrte. Die Landschaft wurde immer ländlicher, Wälder und Wiesen zogen vorbei, und mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, fühlte sie sich weiter von ihrer Welt entfernt. Der Empfang wurde immer schlechter, die Balken auf ihrem Handy verschwanden einer nach dem anderen, bis schließlich nur noch das „Kein Netz“-Symbol auf dem Bildschirm flackerte.

Frustriert warf sie das Handy demonstrativ in ihre Tasche. Was sollte sie auch damit anfangen, wenn sie in den nächsten sechs Wochen ohnehin keinen Empfang haben würde? Ein tiefer Seufzer entwich ihr, begleitet von einem ungläubigen Kopfschütteln. Wie sollte sie das bloß aushalten?

„Das wird gut für dich“, sagte ihre Mutter zum gefühlt hundertsten Mal, während sie eine scharfe Kurve nahmen und in einen dichten Wald fuhren. Ihr Tonfall klang bemüht optimistisch, als würde sie versuchen, sich selbst davon zu überzeugen.

„Mal ein bisschen Abstand von Social Media. Richtiges Leben. Frische Luft, Bewegung, neue Leute kennenlernen!“ Elena verdrehte die Augen und ließ den Kopf gegen die Kopfstütze fallen.

„Das ist kein Leben. Das ist ein Straflager.“ Ihr Vater warf ihr im Rückspiegel einen belustigten Blick zu.

„Nennt sich Sommercamp. Du wirst sehen, es wird dir gefallen“, sagte er und klang im Gegensatz zu ihrer Mutter tatsächlich überzeugt. Elena wusste es jedoch besser. Nichts an diesem Camp würde ihr gefallen. Kein WLAN, keine Smartphones, keine Streams, keine Chats. Stattdessen Sport, Wandern, Gruppenspiele mit Fremden und ein Schlafsaal, den sie sich mit anderen Mädchen teilen musste. Schlafen in einer Hütte mit knarrenden Betten, kalten Duschen und garantiert keiner Privatsphäre. Ihr persönlicher Albtraum.

Als sie schließlich auf den steinigen Parkplatz vor dem Camp rollten, sah Elena sich missmutig um. Die holprige Fahrt hatte eine feine Staubschicht auf das Auto gelegt, und die flirrende Hitze des Sommertages ließ die Luft über dem Kiesplatz flimmern. Rund um sie herum öffneten sich Autotüren, und Jugendliche kamen heraus – einige mit aufgeregtem Lächeln, als hätten sie diesen Moment herbeigesehnt, andere mit dem gleichen leidenden Gesichtsausdruck wie Elena. Eltern verabschiedeten sich von ihren Kindern, einige mit schnellen Umarmungen, andere mit langen Ansprachen, die von Augenrollen und genervtem Seufzen begleitet wurden.

In der Mitte des Platzes stand ein Mann, der auf Anhieb aus der Menge herausstach. Sein verfilzter Bart, die zerzausten Haare und sein lässiges, leicht zerknittertes Shirt mit aufgerollten Ärmeln ließen ihn aussehen wie eine Mischung aus Outdoor-Enthusiast und Lehrer, der gerade von einer mehrmonatigen Weltreise zurückgekehrt war. Auf seiner Brust prangte ein auffälliges Namensschild: „Lagerleiter Dorien“.

Mit einem breiten, unverschämt gut gelaunten Lächeln hob er die Arme, als wolle er eine jubelnde Menge begrüßen. Seine Stimme hallte über den Platz, als er rief: „Willkommen, Zivilisationsopfer!“ Das würde ja heiter werden, dachte Elena. Am liebsten hätte sie sich in dem kleinen Van verbarrikadiert, doch sie wusste, dass sie keine Chance hatte sich hier herauszuwinden. Zu stark waren ihre Noten in den Keller gesackt, während ihr Verhalten, wie es ihre Lehrerin Frau Krem es ausgedrückt hatte, immer auffälliger geworden war. In den Augen aller Beteiligten hatte die Nutzung ihres Handys den schlechten Einfluss auf sie ausgeübt. Und diesen galt es einen Riegel vorzuschieben, hatten ihre Eltern beschlossen.

Kulturschock

Die ersten Tage waren eine Qual. Das schrille Pfeifen der Trillerpfeife um sechs Uhr morgens zerriss Elenas ohnehin unruhigen Schlaf. Der Tagesablauf war gnadenlos: Frühsport im taufrischen Wald, eiskalte Duschen, anstrengende Wanderungen durch unwegsames Gelände. Ihre Füße brannten vor Schmerzen, Blasen bildeten sich an den Stellen, wo ihre Schuhe scheuerten, und die Muskeln in ihren Beinen protestierten schmerzhaft gegen die ständigen Strapazen.

Noch schlimmer war das Feuerholz-Sammeln. Ihre Hände waren rau und voller kleiner Kratzer von den widerspenstigen Ästen, die sie mühsam zusammentrug. Die Hütte, die sie sich mit 4 anderen Mädchen teilte, war spartanisch eingerichtet: schmale Betten mit dünnen Matratzen, kein Strom, keine Steckdosen.

Nachts lag sie wach, hörte das leise Atmen der anderen und wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren. Die Abende waren besonders deprimierend. Ohne ihr Handy hatte sie nichts, das sie ablenken konnte – keine Musik zum Einschlafen, keine Serien, keine Nachrichten von ihren Freundinnen. Sie musste sich mit den Gesprächen der anderen auseinandersetzen. Emma, eine ihrer Hütten-Mitbewohnerin, war eine begeisterte Naturfreundin, die mit leuchtenden Augen über die heilende Kraft der Wälder, die Rufe der Vögel und die verborgenen Schätze der Pflanzenwelt schwärmte. Elena nickte meist nur abwesend, während die anderen sich begeistert über den Tag unterhielten und von Zuhause erzählten.

Dann war da noch Ben, ein Jungs aus ihrer Gruppe, der das Camp nicht weniger lächerlich fand als sie. Sie sahen das Ganze als eine große Herausforderung, eine Mutprobe, bei der es darum ging, die Regeln zu umgehen und heimlich aus den Hütten zu schleichen. Schon nach dem ersten Abend war klar, dass die beidensich gut verstehen würden.

Das Baumhaus

Eines Abends, am Lagerfeuer, beugte sich Benn zu Elena herüber und flüsterte: „Ich habe in der Ferne heute beim Feuerholz sammeln, ein verlassenes Baumhaus gesehen. Was meinst du? Sollen wir es suchen gehen. Wird bestimmt lustig?“

Elena zögerte kurz. Sollte sie wirklich mitgehen? Doch der Reiz des Unbekannten war stärker. Mit gedämpften Schritten schlichen sie durch die stockfinstere Nacht, als sich alle in die Hütten begaben. Jeder Laut schien übermäßig laut in der gespenstischen Stille des Waldes. Die Äste knackten unter ihren Füßen, und das Rascheln der Blätter im Wind ließ Elena immer wieder erschrocken aufhorchen.

Der Wald war ein dunkles Meer aus Schatten, das nur vom fahlen Mondlicht durchbrochen wurde. Die hohen Baumstämme reckten sich wie stille Wächter in den Himmel, während kleine Nebelschwaden über den feuchten Boden krochen. Elena war froh eine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Nach einer Weile entdeckten sie schließlich das Baumhaus – es thronte hoch oben zwischen den knorrigen Ästen einer großen Eiche mit dickem Stamm.

Das Holz war von Moos überzogen, die Leiter sah alt und wackelig aus, aber es hielt. Einer nach dem anderen kletterten sie nach oben, bis sie auf dem knarrenden Boden des Baumhauses saßen. Die Luft war erfüllt vom Duft nasser Blätter und harzigem Holz.

Die alten Postkarten

In einer Ecke fand Elena ein Schränkchen aus Holz. Darin lagen alte Postkarten, die von der Witterung bereits aufgeweicht und verfärbt waren, doch wage ließen sich noch die Worte drauf entziffern. Auf einer schrieb jemand, wie sehr er die Heimat vermisste und hoffte schon bald von der Front abgezogen zu werden. Elena runzelte die Stirn und suchte nach einem Datum. Sie fand es ausgeblichen am oberen Rand. 12. April 1942. Diese Postkarte stammte aus der Zeit des 2. Weltkrieges wurde ihr klar.

Nun betrachtete sie auch die anderen Postkarten und sie begann sie alle der Reihe nach Ben vorzulesen. Alle stammten von dem gleichen Absender und wurden in einem Zeitraum von 2 Jahren fast wöchentlich verschickt. Am 27. September 1944 hörten die Karten auf. Die letzte ließ sie bedrückt verstummen. Es war eine andere fremde Handschrift, die mit kurzen Worten den Tod des geliebten Sohnes und tapferen Soldaten Siegfried verkündet. Elena wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass nur ein Jahr später im selben Monat der Krieg vorbei gewesen wäre. Der Gedanke an diesen fremden jungen Mann, der gestorben war und so viele herzzerreißende Worte an seine Familie verfasst hatte, ließ die beiden in der Hütte ganz still werden. Die Überheblichkeit war wie fortgeblasen.

Sie ließen bedrückt ihre Blicke schweifen, betrachteten die raue, verwitterte Innenstruktur, als wäre es ein geheimes Versteck aus einer vergangenen Zeit. Ohne Handys gab es keine Fotos, keine Beweise, dass sie hier waren. Keine Likes, keine Kommentare, keine Erinnerungen, die durch eine Kamera festgehalten wurden. Nur das Erlebnis selbst – echt, ungefiltert, unvergesslich.

Elena beschloss diese eine letzte Karte mitzunehmen. Obwohl diese letzte die schreckliche Botschaft überbracht hatte, erinnerte sie die Karte an etwas Wichtiges so schien ihr. Das Leben war wertvoll. Unschätzbar wertvoll. Jeder Augenblick war ein Geschenk. Ja, sie mochten nicht in einer Zeit erwachsen werden, in dem Krieg im Land herrschte. Doch wer konnte ihnen versprechen, dass das so blieb. Oder dass sie gesund bleiben würden. Elena dachte an Anna – ein Mädchen aus der Paralelklasse. Sie war letztes Jahr an Krebs gestorben. Sie war gerade einmal 16 Jahre alt geworden. In einer Postkarte hatte Siegfried seiner Mutter geschrieben, wie seltsam es ihm vorkam, nun endlich 18 zu sein. Nur zwei Monate später war er gefallen.

Später, als Elena wieder in der trockenen, warmen Hütte auf ihrem unbequemen Bett lag, kreisten ihre Gedanken um ihr Leben. Was tat sie eigentlich den ganzen Tag? Siegfried hatte in seinen zahlreichen Postkarten von seinen Erlebnissen berichtet – von kleinen Freuden, flüchtigen Momenten des Glücks, seinen Träumen, aber auch von traurigen Stunden.

Und sie? Was hätte sie zu erzählen, wenn sie eine Postkarte schreiben wollte? Nichts. Ernüchtert musste sie sich eingestehen, dass ihr Alltag sich in endlosen Stunden am Handy verlor – ein Video nach dem anderen, herzhaftes Lachen, Zeit, die zwischen ihren Fingern zerrann. Es war amüsant, bestimmt, doch das allein? Das konnte sie niemandem schreiben. Nicht wirklich.

Ein Leben voller PostkarteN

Ihr Blick wanderte zum Fenster, hinaus in den dunklen Wald. In diesem Moment fasste sie einen Entschluss: Von nun an wollte sie jeden Tag so leben, dass sie am Abend eine kleine Postkarte mit ihren Erlebnissen füllen könnte – mit echten, greifbaren Momenten, die es wert waren, erzählt zu werden. Sie stand von ihrem Bett auf und kramte in ihrem Rucksack einen Zettel hervor. Er würde ihr als Postkarte für ihre Eltern dienen. Denn sie hatte ihnen wahrlich etwas zu erzählen.

Als das Camp endete, hielt Elena ihr Handy in der Hand – aber sie hatte nicht einmal das Bedürfnis, es einzuschalten.
„Bleiben wir in Kontakt?“ fragte Ben.
„Klar. Vielleicht schreiben wir uns Postkarten,“ schlug sie unsicher vor.
Ben lachte. „Altmodisch. Aber ich mag die Idee,“ antwortete er mit einem aufrichtigen Lächeln.

Ende

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