WAS ICH BEREUE

Was ich am meisten bereue

EINE GUTE NACHT GESCHICHTE FÜR ERWACHSENE

7 Minuten Lesezeit

Heute war der Tag, an dem ich sie beerdigte. Meine Frau, meine Freundin und Mutter. Sie war all das für mich in den letzten 49 Jahren. Und nun war sie fort. Ein Herzinfarkt hatte sie klammheimlich in der Nacht aus unserem gemeinsamen Leben gerissen. Nur eine Woche vor dem Tag ihrer Rente. Eine Woche und 56 Tage vor unserer lang geplanten Weltreise. Eine Reise, die mir jetzt lächerlich spät vorkam.

Unser ganzes Leben hatte sie davon geträumt, diese Reise mit mir anzutreten. Doch erst war uns die Finanzierung des Hauses dazwischengekommen. Später hatten unsere drei Kinder als Ausrede dafür gedient, sie nie umzusetzen. Als sie ausgezogen waren, hatten die Sanierungen unseres Hauses nach einem Hochwasser einen Großteil unseres Ersparten verschluckt und ohne Rücklagen hatten wir keine Reise buchen wollen. Wir hatten, nein, ich hatte immer einen Grund gefunden, ihre langersehnte Kreuzfahrt um die Welt zu verschieben.

Was für ein Idiot ich doch gewesen war. Jetzt war es zu spät. Zu spät für die Traumreise, die sie bis ins kleinste Detail geplant hatte. Wann immer sie diesen neuen Computer, den unsere Kinder uns zu Weihnachten geschenkt hatten, aufgeklappt hatte, habe ich genau gesehen, wann sie an der Planung der Reise zugange gewesen war. Dann hatten ihre Augen vor Begeisterung und Vorfreude immer aufgeleuchtet. Allein die Vorstellung all dessen, was sie sich für uns ausgemalt hatte, hatte sie mit so viel Glück erfüllt. Glück, dass sie nun nie erleben würde.

Also ja ich bereute es immer so viel gearbeitet zu haben, statt mit ihr diese Reise angetreten zu haben als wir es noch gekonnt hätten. Ich bedauerte es so sehr, dass ich mich fragte, wofür ich die letzten Jahre eigentlich gelebt hatte. Es war fast absurd und ich wünschte mir, ich wäre statt ihrer gestorben. Sie hätte meinen Tod besser verkraftet. Sie hätte sicher getrauert, doch ich war sicher, sie hätte diese Reise angetreten. Für sich, für mich, für uns.

Jetzt saß ich am Küchentisch, die Karten vor mir ausgebreitet und fragte mich, was ich mit ihnen tun sollte. Die Worte meiner Tochter kamen mir in den Sinn, von der Beerdigung.

„Ich weiß, dass du, das jetzt vielleicht nicht hören willst, aber du solltest die Reise, die ihr geplant habt, machen. Mutter hätte das gewollt. Sie hätte gewollt, dass du sie machst, genauso wie sie sie geplant hat. Ich bin sicher, sie ist bei dir.“

Ja, unsere Tochter glaubte fest an das Leben nach dem Tod. Für sie stand fest, dass Maria über uns wachte. Mir fehlte dieser Zuversicht. Und zum ersten Mal in meinem Leben bereute ich es, nicht zu glauben. Es wäre ein Trost gewesen so zu denken wie unsere Tochter es tat. Doch alles, woran ich glaubte, war greifbar und klar. Der Glaube an Gott gehörte nicht dazu. Und doch erwischte ich mich dabei, wie ich darüber nachdachte, ebenjenen Vorschlag unserer Tochter anzunehmen. Ich blickte zu den Karten und fixierte die Daten.

Abreisetage, Uhrzeit für Check-in und Abfahrt. Die Reise ließ sich nicht mehr absagen und ich hatte nichts, das zu Hause auf mich wartete. Aber es kam mir wie Verrat vor. Wie könnte ich eine Reise genießen, die ich nur mit ihr erleben sollte? Doch dann, als ich in der Stille der Küche saß, fühlte ich plötzlich eine seltsame Ruhe in mir aufsteigen. Es war, als würde eine sanfte Hand mir über den Rücken streichen, mir Mut zusprechen, wo keiner mehr war. Und dann wusste ich, dass ich die Reise nicht für mich allein unternehmen würde. Ich würde sie für uns beide antreten.

Am Morgen der Abreise stand ich früh auf, zog meinen besten Anzug an und legte das Halstuch um, das Maria mir zu unserem 40 Hochzeitstag geschenkt hatte. Ich trug einen Teil ihrer Asche in einem kleinen, silbernen Medaillon um meinen Hals bei mir, als ich das Haus verließ. Die Reise begann mit einem schweren Herzen, doch mit jedem Schritt, den ich auf das Schiff zuging, wurde mein Gang fester, mein Atem ruhiger.

Die erste Nacht auf See war von einer tiefen Stille begleitet, nur das leise Rauschen der Wellen war zu hören. Ich stand an der Reling nicht weit von meiner Kabine, das Medaillon fest in der Hand. „Ich werde alles für dich sehen und dir alles erzählen. Warte auf mich.“

Und so begann die Reise. Jeder Hafen, jeder neue Ort war ein Mosaiksteinchen in einem bunten Bild, das ich für uns beide malte. In Barcelona stieg ich die Treppen der Sagrada Família hinauf und spürte, wie die Sonnenstrahlen durch die Buntglasfenster auf mein Gesicht fielen. In Marokko wanderte ich durch die Gassen der Medina, der Duft von Gewürzen und frischem Brot umgab mich und ich staunte über die Farben und die Menschen, die mich umgaben.

Die Klippen in Griechenland von Santorini raubten mir den Atem und konnte meinen Blick nur sprachlos über das endlose Blau des Meeres schweifen lassen. „Das hätten wir gemeinsam sehen sollen“, flüsterte ich in den Wind, der über die Insel fegte. Doch statt Bitterkeit war es ein Moment der Versöhnung. Ich wusste, sie war bei mir.

In jedem Land, an jedem neuen Ort, erlebte ich, wie das Leben sich entfaltete, sich bewegte, vibrierte. Die Trauer wich langsam einer tiefen Dankbarkeit. Ich entdeckte das Lachen wieder, führte Gespräche mit Menschen aus aller Welt und obwohl ich allein war, fühlte ich mich nicht einsam. Maria begleitete mich, ihre Freude, ihre Neugier, sie lebte in meinen Erinnerungen und in jedem neuen Augenblick, den ich erfuhr.

Als die Reise sich ihrem Ende zuneigte und das Schiff zurück in unseren Heimathafen einlief, war ich ein anderer Mensch. Die Last, die mich zu Beginn erdrückt hatte, war leichter geworden, fast unmerklich. Ich hatte wieder gelernt, das Leben zu schätzen, nicht trotz des Verlustes, sondern seinetwegen. Noch immer bereute ich am meisten die gemeinsame Zeit, die uns geblieben war, nicht genutzt zu haben, doch in all den Momenten, die ich erlebt hatte, hatte ich gelernt, dass das Leben weiterging, dass es immer etwas Neues, etwas Schönes zu entdecken hab, wenn man nur die Augen und das Herz offen hielt.

Zurück in der Heimat, setzte ich mich unter unseren Baum im Park, das Medaillon in der Hand, und erzählte meiner Frau von all dem, was ich gesehen und erlebt hatte. Die Sonne schien durch die Blätter, das Lachen von Kindern erfüllte die Luft, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich Frieden.

„Das Leben hat so viel zu bieten, Maria. Und du hast mir beigebracht, das zu sehen. Danke, dass du immer bei mir bist.“ Und so saß ich dort, lächelnd und mit einem Herzen, das nicht mehr nur von Schmerz, sondern auch von Erinnerungen und Dankbarkeit erfüllt war. Das Leben ging weiter, und ich wusste, dass ich nie wirklich allein sein würde.

Ende

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