UNVERHOFFTES WIEDERSEHEN
unverhofftes Wiedersehen
Eine gute Nacht Geschichte für Erwachsene
8 Minuten Lesezeit
Es war einer dieser lauen Sommerabende, an denen die Luft selbst am Abend nicht wirklich abkühlen wollte und die schwüle Hitze einen ermattet auf dem Balkon sitzen ließ. Helena saß in ihrem Liegestuhl und schaute in den sternenklaren Himmel. Die Stadt unter ihr leuchtete in den buntesten Farben und lediglich das gelegentliche Summen einer fernen Sirene durchbrach die Ruhe. Sie nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Weinglas und ließ ihren Tag Revue passieren.
Ihre Meetings am Vormittag waren besser gelaufen als erwartet und ein langjähriger Stammkunde hatte sie in den höchsten Tönen gelobt für die Arbeit, die sie in das neuste Projekt gesteckt hatte. Das hätte Helena eigentlich fröhlich stimmen müssen, doch stattdessen fühlte sie sich ausgelaugt und unzufrieden. War es nicht das, was sie immer gewollt hatte? Erfolg auf ganzer Linie? Sie war die erste Frau in der Chefetage, die für ihr Engagement echte Anerkennung erhielt. In einer Männerdomäne war das fantastisch! Oder?
Nach ihrem Studium hatte sie stets der Gedanke, die beste zu werden, zu Höchstleistungen angetrieben. Obgleich sie noch lange nicht das Ziel erreicht hatte, so spürte sie die Erschöpfung. Dabei hatte sie alles, was sie sich wünschen konnte, bereits erreicht. Sie war stolze Besitzerin eines Apartments mit einem atemberaubenden Ausblick auf die Skyline der Stadt und auch neben ihrer Arbeit hatte sie sich einen kreativen Ausgleich geschaffen, um nicht ganz dem inneren Workaholic in ihr zu verfallen. Wenn sie sich abgeschlagen fühlte oder die Zahlen und Budgets ihrer Kunden sie gestresst nach Hause kommen ließen, malte sie. Es war ein Hobby, dem sie schon immer sehnsüchtig nachgestellt hatte.
Doch selbst das schien sie nicht mehr begeistern zu können. Es war, als hätte sie das verloren, was ihr so sehr daran gefallen hatte. Vielleicht war es ihr Drang zur Perfektion, der ihr der Kunst im Wege stand. Helena konnte es nicht mit Gewissheit sagen und es fehlte ihr die Lust, sich darüber nähere Gedanken zu machen.
Unerwartet klingelte es für ihre Wohnungstür. Sie sah auf ihre neue Armbanduhr. Es war Viertel nach elf. Wer konnte sie um diese Uhrzeit noch stören wollen? Helena stellte ihr Weinglas auf dem Tisch ab und ging zu ihrer Tür, wo sie den Knopf für die Freisprechanlage betätigte.
„Mit wem habe ich zu so später Stunde das Vergnügen?“, fragte sie und musste ein wenig über sich selbst schmunzeln. Selbst für ihre Verhältnisse klangen ihre Worte harsch.
„Zu so später Stunde haben sie das Vergnügen mit ihrer Vergangenheit.“ Helena sah verwirrt zur Eingangstür, als könnte sie mit ihren Augen durch das aufpolierte Holz hindurchsehen. Doch natürlich konnte sie das nicht. Helena zögerte einen Moment, ihre Hand schwebte über dem Türknauf. Die Stimme klang vertraut und gleichzeitig so fremd.
„Wer … wer ist da?“, fragte sie, diesmal sanfter.
„Mach die Tür auf, Helena! Bitte.“ kam die Antwort prompt und etwas in der Stimme weckte eine Erinnerung in ihr. Ein längst vergessenes Gefühl von Vertrautheit. Sie beschloss, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein Mann mittleren Alters, deren Gesicht von der Zeit gezeichnet, aber trotzdem unverkennbar war. Es war Sam, ihr bester Freund aus Jugendtagen, der plötzlich und ohne Vorwarnung aus ihrem Leben verschwunden war. Obwohl es mindestens 20 Jahre her sein musste, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war Erinnerung wie eine Fotografie in ihrem Kopf aufgetaucht. Ein Junge mit ebenso blondem Schopf und grünen Augen wie der erwachsene Mann, der nun vor ihr im Flur stand.
„Sam?“, flüsterte Helena, ihre Augen weit vor Überraschung.
Helena trat noch immer wortkarg einen Schritt zurück und ließ ihn eintreten. Sie schloss die Tür hinter sich und konnte kaum glauben, was gerade geschah. Sam, der Freund, den sie einst so sehr vermisst hatte, stand einfach so vor ihr. Nach all den Jahren.
„Setz dich doch“, sagte Helena und führte Sam in ihr offenes Wohnzimmer, das auch zu ihrem Balkon führte. Sam nahm dankend ihr Angebot an und ließ sich auf der großen Couch nieder.
„Es ist schön dich zu sehen“, sagte er, ließ dabei seinen Blick jedoch durch ihre Wohnung gleiten. Helena sich für die Einrichtung ihrer Wohnung noch nie unwohl gefühlt, ganz im Gegenteil. Sie hatte sie ja so einrichten lassen, wie es nur in einem Designerkatalog zu finden war. Doch jetzt in diesem Moment fühlte sie sich auf seltsame Weise ertappt. Endlich beendete er seinen Rundgang durch ihr Apartment und blickte ihr ins Gesicht.
Zahlreiche Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, doch nur eine verließ ihre Lippen.
„Wieso bist du hier?“, fragte sie, immer noch verwirrt und überrumpelt.
„Ich habe dich gesucht“, gestand er und wirkte nun seinerseits verunsichert. „Es war nicht einfach“, antwortete Sam, „aber ich habe vor ein paar Monaten einen Zeitungsartikel über dich gelesen. Ich habe dich sofort auf dem Bild wiedererkannt und wollte dich einfach treffen.“
„Sorry, das muss sicher total verrückt klingen, aber ich habe dein Bild gesehen und es hat mich daran erinnert, dass ich dich lange Zeit nicht vergessen konnte. Wir hatten damals so eine enge Verbindung und da wusste ich, dass ich dich finden musste.“
„Okay, ähm es klingt jetzt nicht direkt verrückt. Aber es kommt unerwartet. Ich meine, du bist damals mit deiner Familie von einem Tag auf den anderen verschwunden und hast dich nie wieder gemeldet“, erwiderte sie und ließ ihre Fragen dabei in der Luft hängen.
„Du hast recht.“ Sam seufzte. „Es war kompliziert, weißt du. An jedem Tag als wir weg sind ist … naja da ist etwas Schreckliches passiert und meine Eltern hatten beschlossen, ins Ausland zu ziehen und alles ging so schnell. Ich hatte keine Möglichkeit, mich von dir zu verabschieden und als wir dann weg waren, hatte ich keine Möglichkeit dich anzurufen. Ich habe dir Briefe geschrieben, aber die Briefe kamen nie an, das habe ich zumindest gedacht, bis ich sie ein paar Jahre später ungeschickt in einem Karton auf dem Dachboden gefunden habe.“
Helena erinnerte sich an den schmerzhaften Tage, als sie erfahren hatte, dass Sam mit samt seiner ganzen Familie praktisch über Nacht abgehauen waren. Niemand hatte sich damals einen Reim darauf machen können, warum. Sam wirkte, was den Grund betraf, verschlossen und Helena fühlte sich nicht in der Position ihn deswegen auszufragen. Wenn sie eines von Sam noch genau wusste, dann war es seine Ehrlichkeit. Es musste also einen wichtigen Grund geben, warm er ihr verschwieg, was damals dazu geführt hatte.
Doch die Wochen und Monate, in denen sie auf ein Zeichen von ihm gewartet hatte, waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Sie beiden waren unzertrennlich gewesen auf der Highschool. Die Leere und das Gefühl des Verlusts hatten sie geprägt und sie schließlich dazu gebracht, sich in ihr Studium zu stürzen und später in ihre Arbeit.
„Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren“, sagte Helena leise. Die Gefühle, die sie all die Jahre verdrängt hatte und von denen sie gedacht hatte, sie hätte sie überwunden, kehrten mit einem Augenaufschlag zurück. Tränen schossen ihr in die Augen.
„Das hast du nicht. Das hast du nie. Ich habe dich nie vergessen“, sagte er ernst. Helena setzte sich ihm endlich gegenüber auf ihren Sessel.
„Und was jetzt?“, fragte sie unschlüssig, denn sie verstand noch immer nicht ganz, warum Sam vor ihrer Wohnungstür aufgetaucht war. Was war seine Intension? Was hatte ihn nach all den Jahren hergeführt?
„Naja ehrlich gesagt, als ich heute Morgen deine Adresse herausgefunden habe, hab ich da nicht so genau drüber nachgedacht. Ich wusste nur, dass ich dich sehen will.“ Lange Zeit schwieg Helena und sie konnte sehen, wie Sam unter ihrem Blick zu schrumpfen begann. Während sie diesen Effekt schon oft auf andere ausgeübt hatte und sich dabei gut gefühlt hatte, ertrug sie es kaum, dass auch Sam sich unter ihrem Blick windete. Sie wollte, dass er sich wohlfühlte. Sie wollte, dass er blieb. Ein fremder Mann, der einst ihr bester Freund gewesen war und vielleicht sogar mehr als das. Was war, wenn das hier ein Zeichen war? Ein Zeichen, etwas zu verändern. Etwas zu wagen.
„Dann erzähl mir, wie es dir ergangen ist.“, beschloss Helena schließlich und holte die Weinfalsche und zwei Gläser. Sie schüttete Sam einen Schluck Wein ein und lehnte sich zurück. Sam wirkte erleichtert und tatsächlich begann er zu erzählen. Er hatte wie sie ein Studium begonnen. Wie sie hatte er sich in einem bekannten Großunternehmen einen Namen gemacht, doch wie sie hatte er sich verloren gefühlt. Eines Tages hatte er den Zeitungsartikel auf seinem Tisch gefunden. Den Zeitungsartikel über sie. Er hatte es als Zeichen gesehen, sich Urlaub genommen, den er sich nie eingestanden hatte und war in den nächsten Flieger gestiegen um die Freundin zu finden, die er fast 20 Jahre lang nicht gesehen hatte.
Die beiden verbrachten die Nacht damit, über die letzten Jahre zu sprechen, sich an gemeinsame Erlebnisse zu erinnern und sich über die Jahre zu informieren, die sie getrennt verbracht hatten. Die Zeit verging wie im Flug und bald begann der Himmel sich orange zu verfärben.
„Es tut gut, dich wiederzusehen, Sam“, sagte Helena, als die ersten Sonnenstrahlen den Morgen einleiteten. „Das tut es wirklich“, stimmte Sam zu. „Ich hoffe, wir können unsere Freundschaft wieder aufleben lassen und vielleicht na ja mehr daraus werden lassen.“
Helena lächelte. „Das hoffe ich auch. Willkommen zurück, Sam.“
In dieser Nacht begriff Helena, dass etwas sie wieder zusammengeführt hatte und die Zukunft voller Möglichkeiten war. Die Leere, die sie am Abend zuvor noch verspürt hatte, war fort und es kam ihr vor, als sie wieder etwas, das ihrem Leben Heiterkeit brachte, auch wenn sie erst wenige Stunden mit Sam verbracht hatte. Die Hoffnung, die diese wenigen Stunden in ihr aufkommen ließ, war ein Geschenk.
Ende
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* Anmerkung der Autorin: Die verwendeten Bilder wurden mit Hilfe einer KI erstellt.
Danke für die tolle Geschichte! Ich lese sie immer meiner Freundin beim Einschlafen vor, während wir am telefonieren sind. Und bis zum Ende der Geschichte ist sie dann schon weg 🙂
Gerne mehr!
Das freut mich total zu hören, danke für das liebe Feedback! 😊 Es ist schön zu wissen, dass die Geschichte bei euch beiden so gut ankommt – was für eine tolle Art, den Tag ausklingen zu lassen. Und keine Sorge, Nachschub ist schon unterwegs: Bald gibt es eine neue Geschichte mit dem Titel „Die Hütte„. Ich bin gespannt, wie euch die gefällt!