WENN ES DAS SCHICKSAL SO WILL

WAHRE KURZGESCHICHTE – WENN ES DAS SCHICKSAL SO WILL

11 min Lesedauer

Vera hatte eine glückliche Kindheit. Sie wuchs am Rande einer Kleinstadt auf, wo sie oft durch die Felder rannte und stundenlang sang, weil sie es liebte. Ihre Eltern nannten sie liebevoll ihr „Vögelchen“, und Vera genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, sei es bei kleinen Familienfesten oder den Kindergartenaufführungen. Doch das änderte sich, als sie in die Grundschule kam.

Von Anfang an fiel sie auf. Vera war anders. Sie liebte bunte Kleider, sang laut auf dem Schulhof und hatte eine blühende Fantasie, die sie dazu brachte, sich Geschichten auszudenken, die sie ihren Mitschülern erzählte. Was sie jedoch als Gabe empfand, wurde von den anderen Kindern als sonderbar angesehen. Bemerkungen wie: „Warum bist du immer so komisch?“ häuften sich .

Mit neun Jahren begannen die ersten Sticheleien, die rasch bösartig wurden. Was mit harmlosen Bemerkungen begann – „Brillen-Vera“ oder „Streberin“ – verwandelte sich schnell in bitteren Spott. Mitschüler lachten sie aus, rissen ihr die Bücher aus der Hand oder hinterließen Zettel mit gemeinen Botschaften in ihrem Rucksack. „Du bist so hässlich, dass es schon weh tut, dich anzusehen“, hatte ein Junge in der sechsten Klasse einmal gesagt, und die anderen kreischten vor Lachen, während Vera versuchte, die Tränen herunterzuschlucken. Es war, als ob die Welt, die einst so voller Freude war, sich gegen sie gewandt hatte.

Das Mobbing noch grausamer. Ihre Pausensnacks wurden weggeworfen, ihr Fahrradreifen einmal sogar zerstochen. Auf dem Mädchenklo fanden sich Schmierereien wie „Versagerin“ und „Niemand will dich hier“. Vera begann, die Kommentare zu glauben. Sie sah sich im Spiegel und konnte sich nicht mehr vorstellen, dass jemand etwas anderes sah als das Bild, das ihre Mitschüler von ihr zeichneten: wertlos, hässlich, unerwünscht.

Mit der Zeit zog sich Vera immer mehr in sich selbst zurück. In den Pausen saß sie allein, die Augen in ein Buch vertieft, nicht weil sie lesen wollte, sondern weil sie so hoffte, die Welt um sich herum auszublenden. In der hintersten Ecke der Bibliothek oder auf der einsamsten Bank des Schulhofs suchte sie Zuflucht. Die Geschichten, die sie las, waren wie ein Fenster in eine bessere Welt, in der Menschen wie sie stark und mutig waren. Doch selbst diese Geschichten konnten nicht verhindern, dass die leeren Stunden der Einsamkeit an ihrem Selbstwert nagten. Oft fragte sie sich, ob die Welt nicht besser dran wäre, wenn sie einfach verschwinden würde.

Eines Tages, kurz bevor sie 16 wurde, änderte sich alles. Es war einer dieser grauen Tage, an denen die Welt um sie herum wie durch einen Nebelschleier wirkte. Vera fühlte sich unsichtbar, ein Schatten zwischen den Menschen, die achtlos an ihr vorbeigingen. In der Pause saß sie allein auf einer Bank, die sie inzwischen fast täglich für sich beanspruchte. Sie hatte ein altes Buch in der Hand, das sie aus der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Plötzlich hörte sie eine Stimme: „Ist das gut?“

Vera zuckte zusammen und blickte auf. Vor ihr stand ein Junge in ihrem Alter. Er war groß, hatte dunkle, leicht unordentliche Haare und trug eine Lederjacke, die ihm ein wenig rebellisch erscheinen ließ. Seine Haltung war entspannt, aber seine Augen wirkten aufmerksam. Sie hatte ihn schon einmal in der Schule gesehen. Sein Name war Zain, und er war bekannt dafür, still und abweisend zu sein. Manche flüsterten, er sei gefährlich, andere behaupteten, er habe schon öfter jemanden verprügelt. Doch Vera hatte nie wirklich auf Gerüchte geachtet.

„Das Buch meine ich,“ erklärte er und nickte in Richtung der zerlesenen Seiten, als Vera ihn stumm anstarrte. Seine Stimme war ruhig, fast weich, und schien gar nicht zu dem Bild zu passen, das andere von ihm hatten.

„Ja, ich finde es sehr gut,“ murmelte sie schließlich, ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern. Sie wollte wieder auf die Seiten blicken, doch etwas an Zains Blick hielt sie fest.

Zu ihrer Überraschung setzte er sich neben sie. „Ich lese nicht oft, aber ich mag Geschichten, in denen nicht alles perfekt ist. Was ist das für eins?“

Vera zögerte. Klar! Wenn er sich nicht für Bücher interessierte, warum hatte er sie dann angesprochen? Hatten die Mädchen aus ihrer Klasse ihn zu ihr geschickt? Ein neuer Scherz?Warum interessierte er sich für sie? Doch als sie seine Augen genauer betrachtete, konnte sie keinen Hauch von Spott darin entdecken. Stattdessen wirkte er ehrlich interessiert. Ihre Hände umklammerten das Buch fester, und sie erklärte leise: „Es ist ein Roman … über einen Mann, der seinen Platz in der Welt sucht.“ Ihre Stimme gewann langsam an Festigkeit, während sie weitersprach. Sie erzählte von den Themen des Buches, vorsichtig, als teste sie, wie weit sie sich öffnen konnte.

Zain hörte ihr aufmerksam zu, nickte an den richtigen Stellen und stellte Fragen. Es war das erste Mal seit Jahren, dass jemand ihre Worte nicht sofort abschmetterte oder ins Leere laufen ließ. Sie entdeckte, dass Zain selbst einmal ein Buch gelesen hatte, das ihn beeindruckt hatte. Sein Gesicht erhellte sich, als er davon sprach, und Vera erkannte, dass hinter seiner stillen Fassade eine Tiefe lag, die sie nicht erwartet hatte.

Von diesem Tag an begann etwas, das Vera zunächst nicht einordnen konnte. Zain suchte immer wieder ihre Gesellschaft, manchmal mit einem einfachen „Hey“ oder einem stillen Lächeln, das mehr sagte als Worte. Er setzte sich in den Pausen zu ihr, egal ob sie las oder einfach nur in Gedanken versunken war. Bald begleitete er sie auch nach der Schule ein Stück auf dem Heimweg, oft schweigend, manchmal erzählend. Vera war verwirrt. Niemand hatte sich jemals so um sie bemüht. Warum sollte er sich ausgerechnet für sie interessieren, wo sie doch immer das Gefühl hatte, die Welt wolle sie am liebsten ausblenden?

Doch ihre Zweifel blieben. Sie erinnerte sich immer wieder an die Stimmen ihrer Mitschüler: „Zain ist gefährlich.“ „Er wird schnell wütend, pass auf.“ Aber wie sehr sie auch suchte, sie konnte nichts davon in ihm erkennen. Stattdessen war er ruhig, fast nachdenklich, als hätte er sich mit der Welt abgefunden, ohne sie wirklich zu verstehen. Und irgendwann wurde ihr klar, dass er genauso missverstanden wurde wie sie – ein Einzelgänger, der nicht in die vorgefertigten Schablonen der anderen passte.

Mit der Zeit wuchs zwischen den beiden eine Freundschaft, die tiefer ging, als Vera es je für möglich gehalten hatte. Zain begann, ihr kleine Einblicke in sein Leben zu gewähren. Er erzählte ihr von seiner Liebe zur Informatik, von den Stunden, die er damit verbrachte, kleine Programme zu schreiben, weil es ihn beruhigte. Er brachte Vera ein paar Tricks für den PC bei, und sie liebte das Gefühl wenn er näher an sie ranrückte. Im Gegenzug zeigte Vera ihm die Geschichten die sie selbst verfasst hatte. Sie lasen gemeinsam, diskutierten und lachten über die Figuren.

Sie entdeckten, dass sie mehr gemeinsam hatten, als sie zunächst gedacht hatten. Beide hatten das Gefühl, von der Welt falsch verstanden zu werden, beide suchten nach einem Platz, an dem sie sich gehörig fühlen konnten. Sie wurden zu einem Zufluchtsort füreinander – Zain, der Vera zeigte, dass die Welt nicht nur aus Spott und Schmerz bestand, und Vera, die Zain lehrte, dass es Menschen gab, die sich wirklich für ihn interessierten und nicht nur die Gefahr sahen.

Mit der Zeit entwickelte sich aus ihrer Freundschaft Liebe. Es begann leise, wie ein Flüstern zwischen den Zeilen. Zain war der Erste, der ihr sagte, dass sie schön war – nicht nur mit Worten, sondern mit Blicken, die alles bedeuteten. Vera begann ihm zu glauben, langsam, zögernd. Seine Zuneigung fühlte sich anders an, warm und aufrichtig, wie etwas, das von Anfang an zu ihr gehörte. Zain zeigte ihr, dass sie mehr wert war, als die Worte ihrer Mitschüler sie hatten glauben lassen. Und so fanden sie in ihrer Liebe eine Kraft, die sie beide veränderte.

Doch das Leben blieb nicht stehen. Vera’s Eltern hatten schon seit Jahren schwelende Konflikte, die mit der Zeit immer lauter und verletzender wurden. Die Auseinandersetzungen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter begannen anfangs hinter geschlossenen Türen, wurden aber zunehmend offener, bis Vera und ihre Geschwister jeden bitteren Satz und jeden verletzten Blick miterleben mussten. Eines Abends eskalierte ein Streit so heftig, dass ihr Vater gewaltätig wurde und mit einem Koffer in der Hand, die Tür zuknallte und die Familie für immer verließ. Vera stand in der Fluröffnung, starr vor Schock, und sah ihm nach, während ihre Mutter weinend auf dem Sofa zusammenbrach.

Die Wochen danach waren schwer. Vera’s Mutter fiel in ein tiefes Loch, sprach kaum noch und saß oft stundenlang stumm vor sich hin. Vera übernahm nicht nur viele der alltäglichen Aufgaben, sondern versuchte auch, ihre Mutter aufzubauen. Es war eine zermürbende Zeit, in der Vera oft das Gefühl hatte, selbst keine Kraft mehr zu haben, doch Zain war in diesen Momenten ihre größte Stütze. Er blieb an ihrer Seite, brachte Essen vorbei, half ihr bei den Aufgaben im Haushalt und war einfach da, wenn sie jemanden brauchte, um all die Frustration und Trauer herauszulassen.

Manchmal, wenn Vera weinend in seinen Armen lag, flüsterte er ihr zu, dass sie stärker war, als sie selbst glaubte. Seine Worte gaben ihr Halt, und langsam begann sie, sich aus der Dunkelheit zu kämpfen. Gemeinsam mit Zain schaffte sie es, ihre Mutter dazu zu bewegen, eine Therapie zu beginnen, und bald begann sich die Situation zu stabilisieren.

Trotz der Herausforderungen hielten Vera und Zain an ihren Träumen fest. Sie schrieben sich gemeinsam an einer Universität ein und zogen in eine kleine, schlichte Wohnung. Das Geld war knapp, und sie lebten oft von einfachen Mahlzeiten wie Nudeln und Reis, doch sie waren glücklich. Ihre gemeinsame Liebe und ihre Träume gaben ihnen die Kraft, jede Schwierigkeit zu überwinden. Vera spürte zum ersten Mal, wie es sich anfühlte, eine Zukunft zu haben, die sie selbst mitgestaltete. Und Zain war an ihrer Seite, wie ein Fels, der ihr immer wieder zeigte, dass sie trotz allem nicht allein war.

Viele Jahre später, an einem stillen Herbstabend, saß Vera am Küchentisch. Der Mond warf sein silbriges Licht durch die Fenster, und das leise Ticken der Wanduhr füllte den Raum. Vor ihr stand ein halb geleertes Glas Wein, dessen tiefrote Farbe im Kerzenschein leuchtete. Die Wohnung war stil. Zain und die Kinder schliefen schon lange, doch Vera spürte keinen Schlaf in sich. Stattdessen saß sie vor einem Buch, das aufgeschlagen vor ihr lag. Ein altes, zerlesenes Buch, das sie an eine andere Zeit erinnerte – eine Zeit voller Schmerz und Liebe.

Langsam strichen ihre Finger über die Seiten, während ein leises Lächeln ihre Lippen umspielte. Es war das gleiche Buch, das sie damals auf der Bank in der Schule gelesen hatte, als Zain sie zum ersten Mal angesprochen hatte. Sie erinnerte sich an die Kälte des Tages, an die Einsamkeit und die Dunkelheit. Doch dieser eine Moment hatte alles verändert. Er war wie ein Lichtstrahl in einer dichten, dunklen Wolkendecke gewesen.

Oft hatte sie sich in den Jahren danach gefragt, warum das Leben sie so hart getroffen hatte. Warum sie all das Leid, die Einsamkeit und die grausamen Worte ertragen musste. Ihre Gedanken wanderten zu den Tränen, die sie nachts geweint hatte, als niemand sie sah. Zu den Tagen, an denen sie nicht aufstehen wollte, weil die Welt ihr so feindlich erschien. Doch jetzt, in diesem stillen Moment, wurde ihr klar, dass all das dazugehört hatte. Ohne die Narben der Vergangenheit wäre sie nie zu der Person geworden, die sie heute war.

Ohne die Einsamkeit hätte sie nie nach Trost in den Seiten dieses Buches gesucht. Ohne die Schmerzen wäre sie nie auf diese Bank gegangen, an jenem Tag, als Zain sie angesprochen hatte. Ohne diese Begegnung, diesen Zufall, der so unscheinbar begann, hätte sie nie die Liebe ihres Lebens gefunden. Jede Beleidigung, jeder harte Moment schien jetzt wie ein Mosaikstein, der zu diesem großen Bild ihres Lebens gehörte.

Vera nahm einen langsamen Schluck Wein und spürte, wie die Wärme des Getränks sie durchflutete. Ihre Gedanken kehrten zum Buch zurück. Die Worte, die einst nur ein Trost in den dunkelsten Tagen gewesen waren, hatten sie zu ihrer großen Liebe geführt. Dieses Buch war der Anfang gewesen, und nun, Jahre später, war es ein stiller Begleiter in einer Welt, die sie sich gemeinsam mit Zain aufgebaut hatte.

Vielleicht, dachte sie, hatte das Leben ihr genau das gegeben, was sie gebraucht hatte, auch wenn es nicht der Weg war, den sie sich gewünscht hätte. Alles hatte einen Zweck, und dieser Moment, in dem sie alleine am Tisch saß, war der Beweis dafür. Sie lächelte, schlug die Seiten des Buchs zu und legte sich zu Zain ins Bett. Frieden und Glück erfüllten ihre Träume.

Ende

Die in dieser Geschichte vorkommenden Ereignisse sind inspiriert von meinem Leben.

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