UNAUFFINDBAR

KURZGESCHICHTE – Unauffindbar, selbst wenn wir uns gegenüber stünden

Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich meinen Vater über alles geliebt. Er war mein Held, mein Anker, wenn ich zu fallen drohte. Ich weiß noch genau, dass er mich jeden Abend in einen Kokon aus Decken zu Bett brachte. Wann immer ich daran denke, muss ich wehmütig Lächeln. Ich mache es heute genauso mit meiner kleinen Tochter. Sie liebt es, wie ich es einst geliebt habe. Mein Vater hatte die Fähigkeit, mir das Gefühl zu geben, dass ich die wichtigste Person in seinem Leben war.

Doch als ich älter wurde, begann ich zu bemerken, dass sich etwas in meinem Vater veränderte, vielleicht hatte sich aber auch nur meine Wahrnehmung verändert. Seine Augen hatten immer gestrahlt und voller Lebensfreude zu mir herab gesehen, doch mit der Zeit wurden sie traurig und leer. Die warme, die herzliche Stimme, die mich durch schwierige Momente begleitet hatte, schwand langsam und wurde durch eine bedrückende Stille ersetzt. Ich konnte spüren, dass sich in ihm eine Dunkelheit ausbreitete, die ich nicht verstehen konnte. Wie auch? Für mich schien immer die Sonne.

Alles begann mit kleinen Anzeichen. Er wurde reizbarer, zog sich zurück und vernachlässigte das, was im am liebsten auf der Welt war. Seine Familie. Die Momente des Lachens und der Fröhlichkeit wurden seltener und ich fragte mich, ob ich irgendetwas falsch machte. Ich fühlte mich machtlos und verängstigt angesichts der Veränderungen, die sich in meinem geliebten Vater abspielten.

Jedes Jahr seit ich ganz klein war, waren wir in den Ferien und langen Wochenenden auf den Campingplatz gefahren, wo uns ein feststehendes Häuschen erwartete. Es war immer unser Rückzugsort gewesen. Für uns alle. Wir besaßen dort den Garten, den wir uns in der Großstadt nicht leisten konnten und Palmen reihten sich aneinander, wie an einem Strand am Meer. Mein Vater und meine Mutter hatten ihn zu der Oase gestaltet, die uns alle die Ruhe schenkte, die wir brauchten. Besonders mein Vater liebte die Zeit auf dem Campingplatz. Hier konnte er sein Hobby ausleben. Gärtnern. Als Bestatter hatte er oft mit dem Tod anderer Menschen zu tun. Soviel wusste ich. Die Arbeit mit Pflanzen hatte ihn stets geerdet und inneren Frieden geschenkt. Doch ich bemerkte das selbst unser Rückzugsort die Leere in seinen Augen nicht mehr verjagen konnte. 

Die Jahre vergingen und von meinem einst lebensfrohen Vater blieb nach und nach nur noch ein Schatten übrig. Ich schottete mich ab und lenkte mich mit allem, ab was mir in die Finger kam. Lesen half mir. Es brachte mich nicht nur auf andere Gedanken, sondern ließ mich in fremde farbenfrohe Leben eintauchen, während meines immer grauer und wolkenverhangener wurde. 

Dann kam der Tag, an dem sich alles verändern sollte. Ein Sonniger wunderschöner Tag, von dem ich niemals geahnt, hätte das, er so schrecklich enden würde. Enge Freunde waren am späten Nachmittag zu uns eingeladen. Wir saßen alle auf dem Balkon und grillten. Wir redeten ausgelassen spielten Karten, sodass sogar ich wieder etwas aufatmete. Ich weiß nicht mehr was der Auslöser war, doch plötzlich hatte mein Vater zornig die Stimme gegen meine Mutter erhoben. Er brüllte sie an, dass sie still sein solle. Noch nie zuvor hatte ich ihn so erlebt. So voller Zorn. 

Ein Freund von uns stand auf und wollte dazwischengehen und mein Vater erhob das Filetiermesser. Wir alle erstarrten, als er es drohend gegen alle richtete die auf ihn zutreten wollten. Dann wie vom Blitz getroffen war er hineingelaufen und die Treppe ins Schlafzimmer hinauf gestürmt. Mein Bruder und ich sahen uns stumm an und aus irgendeinem seltsamen Grund wussten wir beide was er dort suchte. Die Schreckschusswaffe. Eigentlich nur zur Abwehr vor Einbrechern konnte sie in einem Abstand von wenigen Zentimetern Entfernung trotzdem schwerste bis hin zu tödlichen Verletzungen führen. 

Genau dieser Fakt ging mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Es war so abwegig und doch so glasklar in meinen Gedanken, das er die Treppe hinauf gestürmt war, um eben diese Waffe zu holen, das ich panisch wurde. Mein Bruder erwachte als erster aus seiner Schockstarre und stürmte ihm hinterher. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und wurde von Toben begleitet, das oben einsetzt. Oben mussten sich die beiden aufeinander gestürzt haben. Doch das einzige, was ich hören konnte, war das Radio, in dem gerade Californication von den Red Hot Chili Peppers lief und das Poltern von oben. Dann wurde es ganz still. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und ich stand langsam auf. Meine Mutter tat es mir gleich, ganz blass im Gesicht und mit Tränen in den Augen. 

Kurz darauf hörten wir Schritte von der Treppe. Ich überwand meine Angst und eilte zur Balkontür. Ich hatte beinahe vor Erleichterung und Frustration zugleich aufgeschrien. Mein Bruder hielt meinen Vater die Arme auf dem Rücken und drängte ihn die Treppen hinunter. Ein Blick von seinem zerschundenen Gesicht reichte und ich nahm mein Handy, um die Polizei zu rufen. Doch meine Mutter legte ihre Hand auf meine. Ich sah zu ihr auf und sie schüttelte kaum merklich den Kopf. An diesem Tag erfuhr ich den Grund für all das – mein Vater war manisch-depressiv. Er war krank.

Es fühlte sich an, als hätte der Boden unter meinen Füßen nachgegeben. Ich hatte von dieser Krankheit gehört, aber ich hätte nie gedacht, dass sie einen Menschen so sehr verändern und das Leben so massiv beeinflussen könnte.

Die Tage wurden zu einer endlosen Achterbahnfahrt der Emotionen. Manchmal erlebte ich Momente der Hoffnung, wenn mein Vater einen guten Tag hatte und sich scheinbar besser fühlte. Wir konnten gemeinsam lachen und ein wenig von der Vergangenheit zurückholen. Doch diese Momente waren selten und flüchtig.

Lange innige Freundschaften mit unserer Familie zerbrachen an der Last. Niemand verstand, was es bedeutete manische Depression zu sein oder jemand geliebtes in der Familie zu haben, der daran erkrankt war. Das war das Schlimmste. Das Unverständnis unseres engsten Kreises. Wir wurden einsam und ich merkte wie meine Mutter an ihre Grenzen kam. Ich sprang immer öfter ein, um einzukaufen zu gehen oder zu kochen, doch es war bloß wie der Tropfen auf dem heißen Stein. Als mein Vater seinen Job verlor und dem Vorhaben nachhing Selbstständig werden zu wollen verloren wir nicht nur den Halt aufgrund der Krankheit, sondern auch weil das Geld knapp wurde. Ich musste mitansehen, wie mein Vater gegen seine eigenen Dämonen kämpfte, während meine Mutter unter dem Druck zusammenbrach. 

Seine Manie trieb ihn zu unkontrollierbaren Ausbrüchen und impulsivem Verhalten. Ich fühlte mich hilflos und wusste nicht, wie ich ihn erreichen konnte. Die Person, die ich einst bewundert hatte, schien verloren zu sein. Die Tage wurden zu Nächten, die von Ängsten und Sorgen erfüllt waren. Ich verbrachte Stunden damit, auf meinen Vater aufzupassen und sicherzustellen, dass er keinen Schaden anrichtete. Die Verantwortung erdrückte mich, aber ich wusste, dass ich stark sein musste – nicht nur für mich, sondern auch für ihn und meine Mutter.

Trotz all des Chaos und des Schmerzes blieb die Liebe zu meinem Vater bestehen. Ich erinnerte mich an die guten Zeiten, die wir zusammen hatten, und betete dafür, dass er wieder der Mann werden würde, den ich einst gekannt hatte. Ich hoffte auf eine Zukunft, in der die Dunkelheit endlich weichen und unsere Familie heilen würde. Doch diese Hoffnung wurde nie erfüllt. Unsere Familie zerbrach endgültig nur wenige Jahre nach der Diagnose. Mein Vater hatte nie verstanden, dass er krank war. Für ihn hatte sich die Welt gegen ihn verschworen und nicht seine Gesundheit. 

Eines Nachts nach einem schrecklichen Streit verschwand er ganz aus unserem Leben und ließ den Scherbenhaufen zurück, den seine Krankheit hinterlassen hatte. Zu dieser Zeit machte ich meinen Abschluss, zog aus und lernte den Mann kennen der heute ein liebevoller Vater für meine eigene Tochter ist. 

Ich denke oft an meinen Vater. Er ist irgendwo da draußen. Unauffindbar, selbst wenn wir einander gegenüber stünden, frage ich mich, ob ich ihn wieder erkennen würde. Doch eins weiß ich ganz sicher: Er hat mich geliebt Er hat uns alle geliebt und vielleicht ist er aus diesem Grund gegangen …

Die in dieser Geschichte vorkommenden Ereignisse sind inspiriert von dem Leben eines Vaters mit einer schweren Form von manischer Depression.

Du hast Ähnliches erlebt oder kennst Betroffenen? Dann findest Du beim DGBS Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung. Du bist nicht allein! Manisch-depressiv zu sein, bedeutet krank zu sein!

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