IMMER BEI EUCH

KURZGESCHICHTE Über Sterben – IMMER BEI EUCH

TRIGGERWARNUNG
Diese Kurzgeschichte befasst sich mit dem Thema Sterben. Der Tod einer jungen Mutter. Diese Kurzgeschichte soll helfen darüber aufzuklären. Bitte lies sie Dir nur durch, wenn Du psychisch dafür bereit bist oder mit jemandem gemeinsam.

Niemand bereitet einen darauf vor, wenn einem gesagt wird das man stirbt. Es ist als würde man in ein tiefes Loch fallen. Doch man denkt nicht an das, was man selbst nicht mehr erleben wird. Ich hatte nie Angst davor eines Tages zu sterben. Meine Sorge galt immer meiner Tochter. Sie ist noch so klein. Sie braucht eine Mutter. Meine Sorge galt meinem geliebten Mann. Er ist stark, stärker als die meisten es je sein könnten. Aber es gibt Dinge, die selbst er nicht überstehen kann. Dies ist einer dieser Dinge. Mein Tod.

Er ist ein wundervoller Vater. Ein wundervoller Ehemann. Früher habe ich mit seinen Eltern immer gescherzt, dass ich gesegnet sei. Ich glaube nicht an Gott oder den Himmel. Ich wünschte ich könnte, denn dann könnte ich meiner kleinen Tochter etwas Tröstliches sagen, wenn ich ihr davon erzähle. Denn das werde ich. Mir ist bewusst, wie es ist, wenn man es nicht tut. Kinder können den Tod nicht so wie Erwachsene begreifen. Plötzlich ist jemand einfach fort. Kein Abschied. Keine Umarmung, bei der man weiß, dass es die letzte sein wird.

All diese Dinge gehen mir durch den Kopf als ich auf dem mit altem Leder überzogenen Stuhl vor dem Schreibtisch des Arztes sitze. Er hat zumindest den Anstand mich mitfühlend anzusehen, während er meine Welt durch wenige Worte in Scherben zerspringen lässt. Ich schiebe die Angst vor der Zukunft und meine Tränen fort und schniefe leicht, bevor ich meine Tasche ergreife und mich gefasst erhebe. Stumpf nehme ich den Zettel mit einem weiteren Besprechungstermin an der Rezeption entgegen, bevor ich die Praxis verlasse. Alles ist von einem grauen Dunst umhüllt. Tief in meinem inneren hatte ich es gewusst. Aber ich hatte gehofft, ja sogar gebettet, dass ich mich irrte. Doch ich irrte mich nur selten, was der Grund war, weshalb ich meinen Mann schon in der Schule kennenlernte. Ich wusste das er der richtige war. Von Beginn an.

Zu Hause wische ich alles beiseite. Als wäre nichts geschehen. Ich nehme meine vor Lachen glucksende Tochter in meine Arme und spüre wie mich die Liebe überschwemmt. Doch wo vorher dieses alles überstrahlende Glück war, spüre ich einen Stich in meinem Herzen. Mein Mann spürt die Veränderung und nachdem wir unsere Tochter gemeinsam mit einer Geschichte ins Bett gebracht haben sitzen wir schweigend am Esstisch. Er wusste was für ein Termin heute war. Er weiß es. Ich muss kein Wort sagen. Also schweigen wir. Bis tief in die Nacht.

In den kommenden Wochen funktionieren wir nur noch. Wir gehen unserem Alltag nach, aber wir sind nicht mehr dieselben wie vor der Diagnose. Auch unsere Tochter spürt die Veränderung, auch wenn sie sie nicht versteht.

Eines Abends entscheiden wir uns es ihr zu erklären. Ich fürchte mich vor dem Augenblick, seit ich von meinem Schicksal erfahren hatte. Sie ist erst 5 Jahre alt. Wie soll ich ihr begreiflich machen was mit mir passieren wird? Ich nehme sie in meine Arme und drücke sie fest an mich. Sie schaut mich mit ihren großen Augen erwartungsvoll an und wartet.
„Mein Liebling, Mama ist krank.“ Sie nickt als würde sie verstehen, aber wie könnte sie.
„Ich muss euch verlassen. Erinnerst du dich an Onkel Chris?“ Sie nickt wieder doch diesmal zaghafter.
„Er ist gestorben“, erwiderte sie schließlich.
„Nun, ich werde auch sterben. Nicht sofort aber vielleicht schon bald“, sage ich mit zitternder Stimme. Ich merke erst, dass ich weine, als meine Tochter eine ihrer Hände sachte zu meinem Gesicht ausstreckt und eine Träne fort wischt.
„Ist schon okay Mama, du kannst ja nichts dafür“, entgegnet sie mit einem aufmunternden Lächeln.
„Ich will dich und Papa nicht verlassen, aber ich kann nichts dagegen machen. Aber ich werde immer, hörst du, immer hier in deinem Herzen sein.“ Ich tippe mit den Fingern auf ihre Brust, oberhalb des Herzens. Sie nickt.
„Ich weiß, Mama“. An diesem Abend weinen wir drei lange fest umschlungen in einer vereinten Umarmung.

Die Wochen vergehen und in mir beginnt sich eine Idee zu entfalten. Ich möchte ein Teil meiner Familie sein auch, wenn ich nicht mehr da bin. Also beschließe ich es auch zu sein. Ich schnappe mir meine Fotokamera und gehe hinaus. Jeden Tag, wenn mein Mann arbeiten ist und meine Tochter im Kindergarten. Ich kaufe mir alles, was ich brauche und noch mehr, denn ich habe nicht mehr die Kraft lange Strecken über den Tag zu meistern. Die Schmerzen bestimmen bereits meinen Alltag. Doch ich verberge es so gut ich kann.

Aus Stunden werden Tage, aus Tagen Wochen und schließlich Monate. Monate in denen es mir immer schlechter geht. Ich habe viele Schmerzen, doch ich weigere mich Schmerzmittel zu nehmen, die mir auch nur ein Funken dessen nehmen, das ich noch erleben darf, bevor ich gehen muss. Denn ich erlebe sie vieles. Ich darf sehen wie unsere kleine Tochter Fahrrad fahren lernt, ich darf sehen wie sie ihre ersten Worte schreibt, obwohl sie nicht einmal in der Schule ist.

Ich darf sehen wie sie lacht, obwohl sie mittlerweile weiß, dass ihre Mama bald nicht mehr da sein wird, um es mitanzusehen, wenn sie ihre nächsten Erfolge macht.

Mein Werk ist beinahe vollbracht, als ich das erste Mal in die Notaufnahme muss. Ich bin beim Kochen ohnmächtig geworden und Celin meine Haushaltshilfe fand mich am Boden liegend. Ich spüre das es sich langsam dem Ende zuneigt und es ist nicht schön. Trotzdem verweigere ich jedes Mittel, um meine Qualen zu erleichtern. Ich will um jeden Preis bei Verstand bleiben. Ich will hier sein so lange ich kann. Und das tue ich.

Als ich gehen muss sind alle da. Meine Eltern und Geschwister, unsere ganze Familie. Ich bitte sie nicht zu lange zu trauern und verlange ihnen das Versprechen ab sich um meine zwei liebsten Menschen auf dieser Erde zu kümmern. Meine Tochter liegt viel bei mir und kuschelt sich so oft es geht an mich. Ich genieße diese Augenblicke und als ich sterbe ist sie ganz nah bei mir.

Ich schließe ein letztes Mal meine Augen mit der Vorstellung, wie ein Paket eine Woche nach diesem Augenblick an unserer Tür abgestellt wird. Ein Paket, dabei liegt ein Brief. Ein Brief von mir.

Für meinen geliebten Mann,

du musst jetzt stark sein für uns beide. Denn ich kann es nicht länger. Doch ich werde euch nie verlassen. Ich bin hier, auch wenn ihr mich nicht sehen könnt, ich werde euch über die Schulter sehen, wenn ihr glaubt allein zu sein und ich hoffe, dass ihr beiden eines Tages darüber hinwegkommt. Du wirst eines Tages wieder lieben und es ist okay. Ich will nicht lügen, die Vorstellung gefällt mir nicht, aber du hast ein Recht auf Glück. Nimm dieses Paket und öffne es, wenn du dazu bereit bist. Es enthält das Leben, das wir nicht leben durften. Unser Leben.

In ewiger Liebe, deine Mia.

Ich stelle mir vor, wie er es öffnet und die Gegenstände darin vorfindet. Briefe mit Beschriftungen, wie „Lies mich vor, wenn Abby ihren ersten Schultag hat“. Umschläge mit der Aufschrift: „Bastel mich an Weihnachten„. Ein USB-Stick mit der Bitte ihn am Tag von Abbys Hochzeit abzuspielen. Ein Strampler für ein Baby das sie noch nicht geboren hat. Es sind so viele Umschläge und Briefe das der Karton, in dem sie liegen, bis zum Rand gefüllt ist. Damit ich immer an ihrer Seite sein kann.

Denn ich bin immer bei euch. Für immer…

Ende

Du machst gerade etwas Ähnliches durch oder kennst Betroffenen? Dann findest Du bei aware von Malteser Hilfe und Unterstützung bei der Trauerbewältigung. Du bist nicht allein!

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